27.03.2013

Prof. Christoph Lindenmeyer über Kornelia Boje

Skizze einer herbstlichen Autorinnenlesung

An jenem Abend tat sich vor seinen Augen – oder besser seinen Ohren –
eine ganz neue Welt auf. Es erschien ihm unglaublich, dass die Stimmen
der Sprecher erklangen, sie ihm auf diese Art Gesellschaft leisteten und so die Trennung
von den Freunden, von der Schule und von der Familie weniger schmerzlich machten.
Laura Esquivel: Das zärtliche Alphabet des Don Júbilo

Es muss nicht immer Radio sein.

Aber seit den ersten Tagen und Nächten, in denen ich mich per Kurzwelle und UKW durch ferne Welten horchte, sammle ich Stimmen. Sie begleiten mich seit Jahrzehnten. Ich habe sie im Ohr. Es sind eher die Stimmen als die Bilder, die haften geblieben sind. »Nichts ist schöner als ein Gedicht im Radio«, sagte deshalb auch Hans Magnus Enzensberger in einem Radiointerview.

Nun aber, heute Abend kein Radio. Heute eine Lesung. La Cantina in München. Morgen wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Kornelia Boje liest heute Abend aus ihrem Roman Ullas Erwachen.

Bücher werden geschrieben, um gelesen zu werden, nicht um sie durch das Vorlesen kennen zu lernen. Bücher zu hören ist eine wunderbare Zweiterfahrung, die im guten Fall zum Verständnis tieferer Bedeutungen führen kann. Für mich gilt heute eine andere Reihenfolge. Denn ich kenne den Roman noch nicht.

Boje begrüßt. Scheu, fast zärtlich begrüßt sie alle, die da kamen. Der Raum ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Boje sitzt. Boje liest. Boje spricht. Nur eine Minderheit im Publikum dürfte den Roman schon gelesen haben. Von einem solchen Publikum können Radioleute nur träumen. Um Aufmerksamkeit muss deshalb nicht gebeten werden. Weingläser werden auf dem Boden abgestellt.

Boje liest nicht vor. Ullas Erwachen scheint als Text gerade in diesem Augenblick zu entstehen. Als entdecke sie beim Sprech-Denken erstmals ihre eigenen Worte und Wörter. Ein Name. Noch einmal der Name. Und noch einmal. In der Wiederholung entsteht ein Satz. Aus den Wörtern bilden sich Sätze. Stimmungen bauen sich auf wie Gewitterwolken. Sie liefert nicht ab. Sie deklamiert nicht. Sie chargiert nicht.

Diese Stimme: sie präsentiert keine großen Amplituden zwischen Höhen und Tiefen. Sie macht nicht platt. Aber sie füllt den Raum ganz leise aus. Ihre Perfektion zeigt sich nicht über irgendein Amplituden-Pathos sondern durch anfangs fast manieriert wirkende komponierte Pausen; Boje wird nicht laut. Leise Stimmen machen (eigentlich) müde. Ihre fast zarte, gelegentlich geschärfte Stimme aber setzt neongrelle Konturen im Wechsel mit Sanftheit, auf einmal ein wildes Tempo im Wechsel mit langsamem Erzählen: sie erzählt vom Verweilen der Gefühle in ihren ersten Unentschlossenheiten. Der Rhythmus ihrer Sprache wird zum dramaturgischen Prinzip. Ullas Erwachen ist kein Sekundenschrecknis; wie in einer Psychoanalyse legt Bojes Stimme Schicht um Schicht von Ullas tieferen Erfahrungen, ihrer tiefen Verletzungen wie aber auch ihrer urspünglichen vitalen Lebenslust frei; Bojes Sprech-Denk-Präsentation scheint den Gesetzen ihrer seriell komponierten Fotografien zu folgen, die in La Cantina ausgestellt sind. Auf den ersten Blick wirken die Fotografien, als erzählten sie von Dingen, die wir längst schon kennen. Wer weiter hinsieht, entdeckt in der Komposition aus verschiedenen Blickwinkeln und mit wechselnden Fokussierungen eine geradezu erschreckende Amplitude von Bojes darstellenden Kunst: ihr Kommentar versteckt sich in einer seriell angelegten Collage, in ihrer Rhythmik, die sich einem zeitverzugslosen (= militärstrategischer Fachbegriff) Prozess des Fastfood -Schnellverzehrs=Blitzerkenntnis misstraut..

Boje hören. Boje lesen. Bojes Fotos sehen. Schlecht für jeden, der keine Zeit hat.

Wie lässt sich Ihr Roman einordnen?, wird Boje gefragt. Ein Thriller? Ein Entwicklungsroman? Gefragt wird aus dem Publikum nach einem Ordnungsprinzip, einer DIN-Norm, unter der sich das Gehörte speichern lässt. Nach einem – wie ich es empfinde – Datei-doc-Regulativ. Boje sagt: Kein Thriller. Es ist ein Roman. Sagt sie. Sie reicht – eigentlich – keine Erklärung nach. Keine autobiografischen Bezüge.

Ich war auch nie in Tschetschenien. Aber ich habe viel recherchiert. Ich habe die russische Sprache gelernt. Ich habe Menschen getroffen.

Seit den 60-er Jahren ist mir die Stimme Kornelia Bojes vertraut. Diese Stimme sammelte ich in meinem Kopfarchiv, bevor ich die Schauspielerin, Dozentin, Autorin und Fotografin persönlich kennen lernte. Wir haben seit 1970 viele Produktionen für den Bayerischen Rundfunk vorrangig mit ihr und anderen Stimmen realisiert. Es gibt Texte, die bei ihrer Entstehung nach bestimmten Stimmen verlangen. Ganz genau: nach diesen. Nicht nach irgendeiner Besetzung. Es gibt Texte, die solchen (man sagt so gern wie hilflos: unverwechselbaren ) Stimmen während ihres Entstehens zugeordnet werden, weil Texte für das akustische Medium Radio nicht stimmenfrei geschrieben werden können. Wer für das Radio schreibt, muss Radio hören, bevor eine Sendung akustisch entsteht. Wer schreibt, spricht zuerst. Er muss später lernen, während der Produktion nicht vorzusprechen und nicht mitzusprechen. Er muss wissen und vertrauen.

Kornelia Boje ist zarter geworden. Das Leben und die Leute sorgen dafür, zerbrechlicher zu wirken, zerbrechlicher zu werden. Das gilt für uns alle. Aber dieser Abend mit einer Autorinnen-Lesung: Nix Show. Nix Attitüde. Volles Vertrauen auf die Sprache. Zarter? Verwundbarer? Wer als Jugendlicher in den Nächten sah, wie das grüne magische Auge des Radios mit den Radiostimmen pulsierte, hat das Hören gelernt. Kornelia Bojes Sprache als darstellende Kunst ist nicht zarter sondern eindeutiger, in Textsekunden auch härter geworden. Sie verfügt über eine akustische Virtuosität, über eine wunderbare Kompetenz, Texte zu verstehen und sie in Radiosprache zu übersetzen, die sich nicht behaglich im Artifiziellen einrichten, sondern jener ganz selten glückhaft vernommenen Grundmelodie der Compassion folgen, der Fähigkeit also, die Lebensamplituden anderer Menschen zu verstehen, ohne sie in einem gefühlsduseligen Interpreten-Psychogramm einzufrieren.

Wer solches hört, vergisst solche Sendungen nicht.

Nun können Sie fragen: Was hat Kornelia Boje fotografiert?

Nun können Sie fragen: Was hat Kornelia Boje vorgelesen?

Ich wollte Ihnen nach diesem Abend nur erzählen, was sich unter der Headline

»Lesung und Ausstellung« in La Cantina in München verbarg.

Den Roman werde ich lesen. Und ich weiß: Wenn ich lese, dann höre ich: was die Autorin erzählt und wie sie es erzählt.

Den Roman könnte ich eigentlich rezensieren. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Christoph Lindenmeyer

Prof. Christoph Lindenmeyer ist Leiter der Hauptabteilung Kultur im Hörfunk des Bayerischen Rundfunks und Koordinator des Programms Bayern2Radio. Er hat mit Kornelia Boje viele Sendungen für das Kulturradio produziert, keineswegs jede Sprecherin-Rolle aber mit ihr besetzt. Denn: »Wer Radio schreibt, muss zuvor Radio hören«. »Jede Textpassage verlangt nach einer bestimmten und nur nach dieser einzigen Stimme«. Wo immer Kornelia Boje als Sprecherin in den Produktionen des Bayerischen Rundfunks mitwirkte, entstanden Sendungen, die ohne sie nicht möglich gewesen wären. Das weiß er, aber das wissen auch viele seiner Kolleginnen und Kollegen, die im Bayerischen Rundfunk oder in den anderen Rundfunkanstalten der ARD einen Sprecherpart mit einem Namen besetzen: Kornelia Boje.

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