Bernt Rhotert
Dr. Bernt Rhotert wurde 1934 in Breslau, dem heutigen Wroclaw, geboren. In Wien und München studierte er Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik, bevor er als produzierender Fernsehdramaturg in Frankfurt am Main tätig wurde. Als Co-Drehbuchautor und Bearbeiter war er an mehreren Fernsehfilmen beteiligt (»Buddenbrooks«, »Don Carlos« und andere) und war zudem seit 1980 Lehrbeauftragter für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität Frankfurt. – Bernt Rhotert lebt heute in Stuttgart.
Seine beiden Romane Grenzverletzung und Namenstage, beide aus den 1980er Jahren, sind nur noch antiquarisch (und in wenigen Exemplaren beim Autor) erhältlich. Indes haben wir sie als E-Books ins Programm genommen.
Farben-Wahl
deutsch-deutsche Erzählung
- Hardcover mit Lesebändchen
- 204 Seiten
978-3-86638-915-1
In dieser Wende von 1989 / 90: die Überlegung, wer, wann, weshalb und auch wobei den Anderen in all den Jahren hintergangen hatte, stand jetzt im Raum.
Marianne: Wer über die Grenze ging, um sich zu nehmen, was er suchte, musste damit rechnen, dass andere ihm das Recht auf diesen Anspruch beschnitten.
Renate: Vor nahezu einem Jahr war sie im Weihnachtsurlaub mit einem Mann gewandert. Und sie wie er, sie waren beide damals
in ihre auferlegten Rollen zurückgekehrt, sobald der Abend kam. Nun soll der Abend alles ändern. Hat sie sich nicht ohne viele Worte mit Johannes dahin verständigt? Auf einmal durfte er reisen.
Richard: Er trat auf den Balkon, um ihr das Bad zu überlassen.
Sie hatten diesmal ein Zimmer mit getrennten Betten. Renate hatte nach ihrer Ankunft nicht erfragt, ob dies dem Zufall oder
seiner Umsicht zuzuschreiben war. Sie erinnerte sich, wie sie noch einmal in einem französischen Bett geschlafen hatten, sie schon den Zufall fürchtend, er könne sie umarmen, und er nicht mehr bereit, ein flüchtiges Glück herauszufordern.
Johannes: In lausigen Zeiten ohne wahre Helden stanzt sich der Boulevard-Zeitungsmarkt aus ungeformtem Material willkommene Legenden. So wurde ausgestreut, man habe Johannes Wiedemann hinterrücks erschossen …
Ruß und Feuer
Roman
- 204 Seiten
- Hardcover
978-3-86638-003-5
Ein Auszug aus dem letzten Drittel des Buches,
Seite 156 bis 159:
Was bleibt? – stand in Annas Tagebuch
Was bleibt von unserer Mutter? Was bleibt, wem bleibt es, und wie denn? Wir haben heute die Urne mit ihrer Asche der Erde anvertraut. Ich war gefühllos und fand auch keinen Trost. Der Trauer habe ich mich in diesem Augenblick nicht ausgeliefert. Widrige Verhältnisse. Ich durfte Jan und Edgar, die Zwillinge, nicht aus meiner Phantasie entlassen. Sie hatten sich zu beiden Seiten bei mir eingehakt. So war es an mir, sie auseinanderzuhalten. Jans Freundin legte einen Arm um Marions Schulter. Dass Marion nicht an der Seite ihres Angetrauten ging, war abgesprochen. Sie hatte im Hotel ein Einzelzimmer in der Nacht. Das war von Edgar so eingerichtet worden. Ich habe meinen Bruder nicht begriffen.
Wir liefen einem kurios hellgrau gekleideten Angestellten des Friedhofs hinterher. Er trug die Urne. Ich hätte sie auf diesem letzten Weg gern selbst getragen. Als Mutters Asche der Erde übergeben wurde, räumte der hellgrau Uniformierte im Hohlraum unter der Öffnung auf. Er schob die Urne meines Vaters von der Mitte auf die rechte Seite, schuf sich Platz. Er nahm die Mütze ab, stand stramm, verbeugte sich, dann gab er uns die Hand. So ging er ab. Kein Gebet. Kein Segen. In solchen Augenblicken fehlt ein Pfarrer. Ich schlug verstohlen ein kleines Kreuz. Iris hat dies Zeichen wiederholt. Edgar las ein Gedicht von Gottfried Benn. Ich habe es mir hernach abgeschrieben:
Die vielen Dinge, die Du tief versiegelt
Durch deine Tage trägst in dir allein,
die du auch im Gespräche nie entriegelt
in keinen Brief und Blick sie ließest ein –
Nach dieser Strophe hielt mein Bruder an. Er sah nach oben, als suchte er den Himmel. Im Wipfel der nächsten Atlaszeder turnte ein Eichhörnchen. Band Edgar es in seinen Vortrag ein? Für ihn willkommene Verwirrung? Banaler Trost? Er lauschte. Dann fuhr er fort:
Die vielen Dinge –
Die schweigenden, die guten und die bösen,
die so erlittenen, darin du gehst,
die kannst du erst in jener Sphäre lösen,
in der du stirbst und endend auferstehst.
Danach war mir ganz elend. Meinte er Mutter? Dachte er nicht eher an sich selbst? Ein Künstler? Der Abschied nimmt. Wovon? Und aufersteht? Wie denn? Welcher Anspruch. Woher nahm er den Mut? In diesem Augenblick? Stützte ihn sein Beruf?
Wir sahen uns an. Wir waren am Leben. Edgar verneigte sich. Zum Ausgang neben der Trauerhalle an der Straße ging er allein voran. Iris war an Jans Seite. Marion hat mich unter den Arm gefasst.
Wir hatten auf der anderen Straßenseite einen Tisch im Nebenzimmer des Cafés bestellt. Der Namen dieser Kuchenklitsche war ein böses Omen, Die letzte Instanz. Als sich die Brüder zu streiten begannen, bin ich aufgestanden und mit dem Taxi ins Hotel gefahren.
Was bleibt von unserer Mutter? Sie hat ein Rätsel mit ins Grab genommen. Edgar bemüht sich, dieses Rätsel aufzudecken. Jan ist verstört. Was bleibt also? Ihr Name neben dem Namen meines Vaters auf einem Stein, in den der Steinmetz einen Zusatz fräst? Unter Vaters Namen? Neben ihm? Darüber? Darauf habe ich nicht geachtet. Jan muss es richten. Er weiß, was ich mir wünsche. Wir können auch in kleinen Dingen Zeichen setzen. – Was bleibt? Mama hat mich belastet mit einem Vorwurf. Ich bin ihr für alles, was mein Leben ausmacht, dankbar. Ich war ein Kind im Krieg, als sich ereignete, was sie im Alter aufgestört hat. War sie nicht glücklich? Ich wünsche sehr, dass ihr im Widerspruch ein Glück erhalten blieb. Hat sich ihr Leben nicht an einem Tag, in einer Stunde, erfüllt mit einer unverwechselbaren, beglückenden wie schmerzhaften Erfahrung? Wer darf das so von sich behaupten? Hat sie sich nicht fortan dazu bekannt? Die Pflicht – nach ihrem Verständnis – hat sie nicht aufgekündigt. Sie hat drei Kinder mit ihrer mütterlichen Liebe groß gezogen. Sie hat auch meinen Vater nicht ins Bodenlose fallen lassen. Mehr konnte sie nicht leisten. Ich bewundere Mutter. Es gibt in unserer Gesellschaft Normen, die sie nicht beachtet hat. Machte sie das schuldig? Wer könnte das behaupten? Womöglich lud sie eine Schuld auf sich, gibt es denn einen Himmel. Sie hat dann aber sicher diese Schuld gebüßt in einem Augenblick, da sich ihr Lebenssinn verdunkelte. Sie hat verloren, was sie liebte. Das hat sie ausgefüllt.
Was jetzt noch ansteht, setzen sie sich auseinander, ist Aufwasch ihrer Kinder. Es wäre gut, wenn sich ein jeder meiner Geschwister mit mir erinnerte, was er empfing. Gentechnisch Ketten, die uns unterscheiden, auszuzählen, finde ich erbärmlich. Ich wünsche keinem, dass er allein von seinem biologischen Erbgut zehren muss. Es mehrt oder mindert die Gefahren einer Raucherlunge, mehr fällt mir dazu nicht ein. Wenn das so weitergeht, dann stolpern wir irgendwann in eine Welt, in der zuletzt der Wille – ein von Gott gegebener freier Wille? – auf Signale von Neuronen und Synapsen für Transmitter eingeschmolzen wird. Dann müssen wir uns daran gewöhnen, dass wir nicht mehr schuldig werden können. Die Freiheit der Entscheidung wird uns dann abgenommen. In einer solchen Welt mag ich nicht leben. Wie arm sind wir, verlieren wir die Fähigkeit zu staunen! Wer nicht mehr staunt, verliert den Glauben. Er bleibt, wie immer er beschaffen ist, der Urgrund jeder entwickelten Kultur. Er hat die Menschheit auch mit Menschenfresserei gesegnet. Im Mittelalter gravierte ein Silberschmied die Griffe von Messern und von Lanzen: blutige Waffen! Man erfand das Pulver, stopfte Vorderlader, baute Bomben. In der Wüste von Alamogordo spalteten amerikanische Wissenschaftler das Atom. Nach Hiroshima sind sie erschrocken. Der Preis der erhofften Freiheit war ein apokalyptischer Feuerball.
Dies alles ist niederschmetternd. Doch wäre es weit entsetzlicher als bloßer Ausfluss einer darwinistischen Entwicklung, die einfach weiterläuft und nicht mehr unserem Willen unterliegt. Mahatma Ghandi hat in der Schwäche die Welt womöglich mehr verändert als alle selbsternannten starken Helden mit ihrem mörderischen Handwerkszeug. Ergebnis unterschiedlich programmierter Gene auf der einen wie der anderen Seite? Die Opfer ausgestattet mit einem Gendefekt? Das kann ich mir nicht denken.
Ist meine Vorstellung naiv? Edgar wird sie belächeln. Das mag schon sein. Er hat auf einem breiter angelegten Feld studiert, als mir in meiner Jugend möglich war.
Ich bin weit abgewichen. Erinnere ich mich der Mutter, denke ich an einen Baum mit Vogelbeeren in meinem Garten. Wie es da zuging an einem Sonnentag im letzten Herbst, steht mir vor Augen. Da tummelten sich blauschwarz gefiederte Eichelhäher mit Grünlingen und bunten Finken in den Zweigen. Sie pickten schmatzend in den Dolden roter Beeren. Die Lieblingsvögel meiner Mutter waren weiße Kakadus.
axel dielmann – verlag
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