Autoren & Bücher
Mladen Dolar
Mladen Dolar, 1951 geboren, ist Philosoph, Psychoanalytiker, Kulturtheoretiker und Filmkritiker und zusammen mit Slavoj Žižek and Rastko Močnik Gründer der „Gesellschaft für Theoretische Psychoanalyse“. Er ist einem – bei aller philosophischen Finesse und sprachlichen Wachheit – kaum beizukommenden Thema auf der Spur: dem Gerücht. Indem er in die Gerüchteküchen der Weltliteratur einsteigt, enthüllt er uns einiges über die finstere Lust am Tratsch …
Vor dem Gericht der Gerüchte
Essay
- 16er-Reihe
- von Hand fadengeheftet
- 48 Seiten
- redaktionell betreut von
- Matthias Göritz und Urban Šrimpf
- ein Bändchen aus der
- BOX – die wilden Slowenen
- zum Gastland-Auftritt Sloweniens 2023
978-3-86638-401-9
Wie unbegründet sie auch sein mögen, Gerüchte hinterlassen immer einen Fleck, und diesen Fleck kann man kaum noch entfernen.
Dahinter verbirgt sich ein zynisches Kalkül: Man weiß, dass ein Gerücht nicht wahr ist und es keine Beweise gibt, aber man weiß auch, dass es haften bleiben wird, egal wie falsch es ist. Es gibt einen Moment des Vergnügens an der leicht erhaltenen Macht, der man dadurch zuteil wird – man kann Gerüchte in einer Quasigewissheit schwingen, dass sie ihr Ziel immer treffen, ohne dass wir uns dabei die Hände schmutzig machen müssen.
In der Funktionsweise von Gerüchten steckt eine Art magisches Denken, nämlich der Glaube, dass man nur mit unbegründeten Worten Menschen (und Sachverhalte) beeinflussen kann. Worte können das, worauf sie sich beziehen, eingehend beflecken, selbst wenn sie völlig ungenau und ungerechtfertigt sind; sie beginnen, als Eigenschaft der benannten Sache zu funktionieren. Was immer man Menschen in Gerüchten zuschreibt, wird zu ihrer „gespenstischen“ Qualität, und kein noch so gutes Argument kann diese Verleumdung rückgängig machen. Man ist dem Gerücht hilflos ausgeliefert und befindet sich „immer schon“ in der Defensivposition. Bei Gerüchten wirkt die referentielle Funktion wie eine unbewusste Zauberkraft, die die Dinge mit Worten durch bloße Benennung beeinflusst.
Es gibt eine lange Geschichte, die von dieser unbezwingbaren und unwiderstehlichen Macht der Gerüchte zeugt – hier ist sie verdichtet erzählt!
Gerüchte haben per Definition keinen Urheber, es gibt also einen nicht näher bezeichneten „Jemand“, der niemals ans Licht gebracht und identifiziert werden kann. Es beginnt mit einem Wort, das aus dem Nichts kommt und doch überwältigend ist …
So läuft es mit den Gerüchten: Sie bleiben. Sie bleiben haften, ob man will oder nicht; sie hinterlassen ihre Spuren, die unauslöschlich zu sein scheinen …
Man kann nicht reden, ohne zu tratschen, und zwar von dem Moment an, in dem man den Mund öffnet. Klatsch usurpiert den Ursprung, aber es gibt keine Sprache ohne Usurpation. […] Die übliche Funktion der Sprache, vermeintlich Kommunikation und Information, setzt bereits die Grundhaltung der Verleumdung und Beleidigung voraus. Sprechen heißt boshaft zu sprechen, sprechen heißt zu tratschen und Gerüchte zu verbreiten, sprechen heißt zu verleumden …
axel dielmann – verlag
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